Geburt mit Hindernissen

Schafflund, den 25. 12. 2020

Der kleine Wolfgang kam vor 55 Jahren in Schafflund zur Welt und nicht wie vorgesehen im St.-Franziskus-Hospital – die Geschichte einer Odyssee


Elke Hersmann hat ein besonderes Geschenk an ihren Sohn Wolfgang verschickt – den Schafflund Kalender. „Als ich in der Zeitung von dem Kalender erfuhr, wusste ich sofort, dass ich damit meinem Sohn zu seinem 55. Geburtstag eine Freude mache“, erzählt sie. Denn Wolfgang ist ein gebürtiger Schafflunder – die abenteuerliche Geschichte seiner Geburt könnte durchaus Stoff für ein Drehbuch liefern.
„Es ist, als wäre es gestern gewesen“, erinnert sich die 75-Jährige aus Tarp. Doch wir müssen bis ins Jahr 1965 zurückblicken, eine Zeit, in der die Kommunikationswege noch beschwerlich waren. Elke Hersmann war gerade einmal 20 Jahre alt, wohnte in Leck und „war noch völlig unbedarft“, wie sie mit einem Lächeln bemerkt. Hochschwanger erwartete sie den errechneten Geburtstermin, und so traf sie sich eine Woche vorher noch ganz entspannt mit ihrer Nachbarin zum gemütlichen Kaffeeplausch, mit dabei ihre zweijährige Tochter Regine.
Doch am nächsten Morgen gegen halb sechs spürte sie ein Ziehen im Bauch. „Mein Mann ist gleich losgelaufen, um von einem Kumpel ein Auto zu leihen“, erzählt sie, denn „wir hatten damals noch gar kein Auto“. Doch die Wehen wurden stärker, die Nachbarin rief ein Taxi. Aber wo sollte die kleine Regine bleiben? Kurzerhand wurde sie zum fünfjährigen Sohn der Nachbarin gebracht. Als das Taxi kam, blieben die Kinder alleine – während der werdende Vater noch immer auf der Suche nach einem Auto war.
„Es lag viel Schnee und wir kamen nur bis Schafflund“, sagt Elke Hersmann. „Der Taxifahrer wusste von einem Tierarzt an der Hauptstraße und hielt dort an.“ Doch Tierarzt Petersen wehrte ab: „Dor will ick nix mit to dohn hem.“ Aber er gab ihnen einen Tipp: „Im Buchauweg wohnt der Hausarzt Dr. Ostermann.“
Dort angekommen, wurde die Schwangere sogleich ins Zimmer der Tochter geführt und betreut. Schließlich brachte sie dort einen gesunden Sohn zur Welt, 4400 Gramm schwer und 52 Zentimeter groß. „Er war ein großer, runder, süßer Kerl.“
Elke Hersmann erinnert sich noch genau an das Zimmer: „Es hing ein Netz mit grünen Kugeln an der Decke. Ich dachte immerzu: Hoffentlich fallen die jetzt nicht herunter.“
Nach der Geburt konnte sich die junge Mutter mit Kaffee und Mettwurstbrötchen stärken. Aber als Frau Ostermann in die Krankenhaustasche geschaut habe, sei sie perplex gewesen: „Da sind ja nur Bücher drin.“ Babysachen? Fehlanzeige. „Ja, ich war noch unbedarft“, lacht Elke Hersmann. So musste Frau Ostermann schnell zum Bekleidungsgeschäft „Sievers“ laufen, um das Nötigste für den kleinen Wolfgang zu besorgen.
Währenddessen war ihr Mann auf der Suche nach einem Auto fündig geworden und hatte zielsicher das Franziskus-Hospital in Flensburg angesteuert. Als wären die Umstände nicht schon aufregend genug, erhielt er dort zu seiner Überraschung die Auskunft: „Ihre Frau ist nicht hier.“ Sie warte bei Dr. Ostermann auf einen Krankenwagen für den Transport ins Krankenhaus. Also fuhr der Vater nach Schafflund. Dort erfuhr er, dass seine Frau mit dem Baby unterwegs nach Flensburg sei. Also machte er abermals kehrt. Seine Odyssee endete schließlich im Franziskus-Hospital.
Zur allgemeinen Anspannung kam nun die Sorge, wie es der kleinen Tochter in Leck wohl gehen würde. Doch die Nachbarin konnte schon bald Entwarnung geben. „Wir haben Hüpfen gespielt“, habe ihr Sohn bei ihrer Rückkehr gestrahlt.
Doch für Elke Hersmann ging das Abenteuer noch weiter. „Das Kind kann hier nicht aufgenommen werden, nur die Mutter“, hieß es auf der Entbindungsstation. Damals leiteten Nonnen die Krankenpflege, die „Armen Schwestern des heiligen St. Franziskus“, und es galten strenge Regeln. Der Vater war verzweifelt. Wie sollte er einen Säugling allein zu Hause versorgen?
Rettung nahte schließlich in Gestalt der Ordensschwester Angelika. Sie brachte den kleinen Wolfgang ins Schwesternzimmer, getrennt von den übrigen Babys, die, wie damals üblich, gemeinsam im Säuglingszimmer schliefen und alle vier Stunden den Müttern zum Stillen gebracht wurden. „Schwester Angelika hat mir meinen Sohn immer selbst gebracht“, erinnert sich Elke Hersmann in tiefer Dankbarkeit. „Und als ich entlassen wurde, hat sie sogar geweint.“

 

Quelle - SHZ Helga Böwadt

 

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